Jockey
Ich bin wegen der Pferderennen nach Paris gekommen. Wie auch immer das auf Französisch heißen mag. Hippodrom haben sie am Bahnhof gesagt und mich hierher geschickt, aber schon auf dem Sandweg entlang der Hecken war mir klar, dass es nicht der richtige Ort ist. Ein weites Gelände mit altmodischen Tribünen und vielen Angestellten, die auf dem Rasen und an den Zäunen beschäftigt sind. Aber es riecht nicht nach Pferd. Ich habe diese Plätze nie besonders gemocht, wo man morgens wie ein Besucher auslädt, in unangetastete Sauberkeit hinein, ohne die Seele täglicher Arbeit. Und was immer sie auch sagen, die Pferde geben nicht ihr letztes, wenn sie nicht den Schweiß harter Arbeit in der Nase haben. Sie spüren es einfach. Als bliebe etwas von ihnen zurück. Ich habe es oft genug erlebt. Barnem auch, er hasste diese Sonntagsrennbahnen. Er hat das mit der Seele gesagt, ich sehe noch, wie er dabei mit dem Finger über seine schmale Nase fuhr. Keine einzige Narbe hatte er darauf. Auf meiner ist fast kein Platz mehr vor lauter Narben. Eine ist noch ganz frisch, zwischen den Augen. Im Zug haben sie mich ganz misstrauisch angesehen, aber man kann ja nicht herumlaufen und jedem, der einen anstarrt, erklären, dass man kein Totschläger, sondern Jockey ist, auch wenn das vielleicht keinen besseren Ruf hat. Manche machen sich nicht einmal die Mühe, sich vorzustellen, bevor sie fragen, warum wir die armen Tiere so misshandeln, und es gibt tatsächlich Menschen, die ernsthaft glauben, die Pferde wären uns gleichgültig. Mit Sicherheit weiß ich mehr über Pferde als irgendeiner von ihnen, mein ganzes Leben habe ich nichts anderes getan. Ich kenne sie besser als irgendwas sonst. Als wäre ich mit angezogenen Beinen auf einem Pferd geboren. Ich benutze fast nie die Peitsche. Es ist die Armbewegung, die sie zum Laufen bringt. Und dann gibt es die Pferde, die auf die Peitsche warten. Als bräuchten sie ein äußeres Zeichen für den letzten Impuls nach vorne. Das sind oft die, die ganz nach oben kommen. Aber mir liegen sie nicht. Denn mit allem, was ich über Rennpferde weiß, erkenne ich auch sofort die heraus, die nicht mein Typ sind. Es ist nicht ihre Überspanntheit; verrückt sind sie alle und das gefällt mir an ihnen. Aber manche haben diesen Funken in den Augen, den man nicht einmal boshaft nennen kann, es ist eher, als würde etwas fehlen, als würden sie ihr eigenes Dasein nicht begreifen. Für mich ist es Dummheit. Das sind die, vor denen fünf Mal ein Apfel auf den Boden fällt und beim sechsten Mal machen sie einen Satz und krachen gegen die Stalltür, durch die sie jeden Tag gehen, als hätten sie sie noch nie gesehen. Unberechenbar. Sie können ein einwandfreies Rennen laufen, schnell wie sie sind in ihrer Dummheit, und plötzlich wie von Sinnen in das nächste Pferd oder den Zaun brechen, als wären sie unfähig, die Distanz um sich herum zu ermessen.
Merkwürdigerweise waren es genau diese Pferde, die es Barnem so angetan hatten. Er war einer der wenigen, der sie durch ein ganzes Rennen bringen konnte. Für ihn war es keine Dummheit. ‘Sie sind so verloren wie ich’, sagte er und ich sah ihn nie auch nur einen Augenblick zögern, wenn er mit ihnen arbeitete. Und als es sich herumgesprochen hatte, wie er mit den Nervenbündeln zurechtkam, hatte er kaum noch ein anderes Pferd unter den Händen. Manchmal kämpfte er Wochen oder sogar Monate, denn nur die wenigsten Pferde glauben an Liebe auf den ersten Blick. Aber er gewann immer. Egal wieviel Energie sie aufwandten und wie klein und zierlich er selbst war, irgendwann begriffen sie es. Und wie ein kleiner Junge strahlte er über das ganze Gesicht, wenn er merkte, dass er es geschafft hatte.
Ich habe die Gärtner gefragt, wo das Training stattfindet. Keiner versteht mich. Aber das halbherzige Schulterzucken für den, der unsicher von außen an den Zaun tritt, ist überall gleich. Nur dass ich bis jetzt immer drinnen war. Es war Gordon, der mich auf Frankreich gebracht hat. Und nach dem Champions Derby blieb mir nicht mehr viel anderes übrig. Auch wenn alle noch genauso freundlich waren und mich verlegen angrinsten, wenn sie mich kreuzten. Sie konnten noch so sehr beteuern, wie sehr ihnen das Ganze leid tat, es war klar, dass es nicht viel Chancen gab, wieder für ein Rennen genommen zu werden. Nicht in dieser und vielleicht auch nicht in der nächsten Saison und wer weiß, ob überhaupt. Sie sind zu abergläubisch. Dein Name muss nur einmal in eine Sache verwickelt gewesen sein und du bist draußen, auch wenn du nichts, aber auch gar nichts dafür konntest.
Da gibt es diesen Trainer, einen Franzosen, der mich gesehen hat, als ich bei Cardigans war. Er war bei dem Herbstderby, in dem ich mit Flatter den ersten Preis gemacht habe, und wollte mich sofort mitnehmen. Sechs Pferde hätte er mir gegeben und mit allem, was er von seinem Stall erzählte, war es wirklich ein verlockendes Angebot. Aber zu der Zeit gab es keinen Grund, von Cardigans wegzugehen. Sie hatten gute Pferde und niemand redete mir in meine Arbeit. Ich habe nicht mehr dran gedacht, bis Gordon von Frankreich erzählte. Ich habe seinen Namen vergessen, aber ich bin mir sicher, dass er sich an mich erinnert, wenn er mich sieht. Schließlich war ich nicht gerade unbekannt in dem Jahr. Und ich glaube nicht, dass sie hier von der Sache gehört haben. Und selbst wenn, ist es weit weg. Die Pferde bei Fullers sind sowieso nicht mehr das, was sie einmal waren. So ist es nun mal, wenn ein guter Stall wie Cardigans an einen der großen verkauft wird. Die haben es einfach nicht im Gefühl.
Meine Nase blutet wieder. Ich glaube, ich muss mich kurz hinsetzen. Das viele Gehen in dieser hektischen Stadt, und das Blut kommt öfter seit dem Champions Derby. Jemand im Zug hat von zwei Plätzen außerhalb der Stadt gesprochen. Vielleicht trainieren sie dort. Morgen werde ich mich darum kümmern. Ich mag die Menschenmengen in der Stadt nicht. Ich könnte nicht einmal sagen, ob Barnem die Stadt mochte. Wir waren immer nur draußen. Ich glaube, in der ganzen Zeit in der wir uns kannten, ist keiner von uns in die Stadt gefahren. Außer natürlich zu den Rennen. Von uns allen verbrachte Barnem die meiste Zeit in den Ställen. Die Anderen zogen ihn damit auf und nannten es Gefühlsduselei, aber irgendwie respektierten sie ihn trotzdem und gingen als Erstes zu ihm, wenn ein Pferd ihnen Probleme machte. Für mich war er wie ein Junge, der nicht erwachsen werden wollte und dafür den richtigen Körper bekommen hat. Dabei war er ein Profi. Aber es machte ihn wirklich traurig, wenn er sich von einem Pferd trennen musste. Natürlich versetzt es einem einen Stich, wenn sie ein Pferd verkaufen, mit dem man eine Zeitlang gearbeitet hat, vor allem, wenn es ein Sieger ist und man das Gefühl hat, man könnte noch viel weiter mit ihm kommen. Aber bei Barnem war es anders. Sicher wollte er gewinnen, aber manchmal sah es aus, als hätte er es einfach vergessen. Niemals hätte er zugegeben, dass eines seiner Pferde es einfach nicht bis an die Spitze schaffen würde. Und oft hatte er recht. Aber vielleicht war sein Einsatz zu groß. Als müsste er etwas beweisen, das nur er kannte. Vielleicht hatte er deswegen alles daran gesetzt, Kelly zu überzeugen, Northwind für das Champions Derby aufzustellen. Kelly war dagegen, aber ein Teil von ihm glaubte an Barnems Gefühl und schließlich gab er nach und wir nahmen Northwind mit.
Ich sollte nicht so lange sitzen bleiben. Es gibt noch eine Menge zu tun heute. Ich muss herausfinden, wann die nächsten Rennen sind. Ich muss diesen französischen Trainer finden. Selbst wenn er mir nur ein Pferd gibt, aber ich kann nicht noch länger in diesem dunklen Hotel neben dem Bahnhof bleiben, mit den Betrunkenen und den verwahrlosten Gestalten von überall her, als wären sie gestrandet und liegen geblieben. Manchmal frage ich mich, ob es das ist, was Barnem mit dem Verlorensein meinte. Ob es sich anfühlte, als wäre etwas in ihm zersprungen und egal wie sehr man dagegen anzukommen versucht, weiß man, dass es nie wieder sein wird wie vorher. Ich habe sogar daran gedacht, zurückzugehen, aber nach so vielen Jahren weiß ich nicht einmal, was mich dort erwarten würde. Mein Zuhause waren immer die Ställe und die Rennplätze. Es war das einzige Leben, das ich wollte. Nur einmal, in dem Jahr von meinem ersten Herbstderby, habe ich ihnen einen Artikel mit meinem Photo geschickt. Es kam nie eine Antwort. Später habe ich zu oft die Ställe gewechselt, als dass sie mich noch hätten ausfindig machen können.
Ich habe auch einige Unfälle gesehen, aber das gehört dazu. Ich hatte immer Glück, bei keinem Sturz waren es mehr als ein paar Kratzer. Barnem ist nie gestürzt, es war unglaublich. Als wäre er mit dem Pferd verwachsen, sogar in unserer haltlosen Schwebe.
Vielleicht sollte ich zu einem Arzt gehen. Fühlt sich an, als habe man einen Pfropfen aus der Nase gezogen und vergessen, ihn wieder hineinzuschrauben. Ich bleibe einfach noch ein wenig sitzen. Überhaupt ist es angenehm hier, mit den Bäumen und dem Grün, kein Gerenne. Manchmal frage ich mich, ob ich es noch einmal schaffe. Wieder die Beine an die heißen Flanken gepresst, der Schwindel des Laufs, das betäubende Ringen um Boden und dann die Kurve, wo sie härter drängen, eng gegeneinander, und plötzlich bricht es aus, bricht ein Pferd nach links, direkt vor dir, du siehst fast nichts im Gewirbel, überall Staub, du fühlst nur eine Masse durch die Linien brechen, schon stürzt in einem Tumult aus Beinen und Körpern alles übereinander, und ganz unten ist ein Körper, nach dem man eine Hand ausstreckt, während er zu Boden getrampelt wird.
Es ist nur ein schwacher Moment. Niemand wird es merken. Vielleicht gibt es ja etwas gegen das Bluten. Es darf nicht kommen, wenn ich den Trainer sehe. Zu dumm, dass ich seinen Namen vergessen habe. Aber er erkennt mich bestimmt wieder. Er war wirklich enttäuscht, dass ich nicht mitkommen wollte. Vielleicht könnte ich mit ein paar leichten Trainingsläufen anfangen, nur um wieder hineinzukommen. Ich könnte ihnen sagen, dass ich verletzt war. Ich muss nur ruhig bleiben, und alles wird wie früher. Ein paar leichte Läufe entlang der Geraden und es wird kommen, niemand wird etwas merken. Es ist das einzige, was ich je getan habe. Ich wollte, das Bluten würde aufhören. Aber der Wind unter den Bäumen ist angenehm, die Stadt so weit weg. Hinter mir ist das andere Grün, Hippodrom, ich habe nicht einmal die Bahn gesehen. Wenn ich mich ein wenig zurücklehne, stehen die Tribünen auf dem Kopf, als würden sie sich vor dem Himmel verbeugen. Sehen gar nicht mehr so ernst und würdevoll aus. Ich bin nie auf einer gesessen. Doch, einmal, als mich mein Onkel zu meinem ersten Rennen mitgenommen hat, aber das waren eher Metallgitter als richtige Tribünen. Komisch, es ist das erste Mal, dass ich mich daran erinnere. Ich war immer auf der anderen Seite, auf der Seite der Pferde. Bis die Pferde auf meine Seite kamen. Barnem hätte der Blick gefallen. Tribünen im Himmel. Vielleicht sollte ich ein wenig durch den Park gehen, um die Maschine wieder in Gang zu bringen. Der Trainer wäre sicher nicht begeistert, mich so zu sehen. Du bist der, der das Herbstderby, den Juniorlauf und den Großen Preis in einem Jahr gewann? Aber morgen wird es besser sein, ich muss mich nur ein bißchen ausruhen. Jeder hat solche Phasen, es ist nur eine Frage der Selbstkontrolle, sie zu überwinden. Man darf sich nicht gehen lassen. Wie Billie Starnt, der mit seinem geschwollenen Gesicht von Box zu Box torkelte und seinen alkoholisierten Atem in die Nüstern der Pferde blies, ohne dass jemand wagte, ihn hinauszuwerfen. Ich werde nicht einer von denen werden, die ihr Ende nicht verwinden können. Aber das ist es nicht. Es gibt noch Einiges zu tun, ein paar Preise fehlen mir noch.
Wirklich lustig, die Bäume kopfüber. Wie ein Kinderbild mit roten Strichen, die sich verschwommen über den Hintergrund ziehen. Wenn nur mein Kopf nicht so pochen würde; wie ein vollgesogener Schwamm, der mich mit schwarzen Löchern bombardiert, mitten in die Bäume hinein. In das Grün, das dann fast so hell wird wie das andere, ein leuchtender, weicher Rasen, ausgestreckt in der Sonne, bis er unter der verkeilten Gruppe aus stampfenden Hufen, vorgestreckten Hälsen und fliehenden Gesichtern erzittert. Unaufhaltsam nach vorne geworfen unter der hämmernden Stille wird die Bewegung zu einer halluzinierenden Bewußtlosigkeit; du fühlst die Schnelligkeit nicht, weil du in ihr bist, sie ergreift deinen Körper wie einen freien Raum, trägt dich weiter und weiter, in einem einzigen grenzenlosen Impuls. Dann der Schnitt, der die Gruppe aus schlagenden Hufen durchfährt, sie durchtrennt in einem richtungslosen Stolpern, Blut spritzt auf die Pferdeleiber, weit unten hört man ein ersticktes Knirschen. Und dann bist du selbst mittendrin, versuchst, dich hinunterzubeugen und siehst sein Gesicht im verzerrten Todeskampf unter den rotierenden Eisen, den scheuenden Pferden, die panisch auf etwas treten, was nicht der Rasen ist, blind ineinander rennen.
Zwei Sekunden und es ist vorbei, die chaotisch verhakte Gruppe hat sich über das formlose Bündel hinweggekämpft, ein herrenloses Pferd mit aufgerissenen Augen im Schlepptau.
Langsam beuge ich meinen Kopf nach hinten zu den Bäumen und kann das Blut riechen, so wie ich es roch, als ich direkt über seinem Kopf war und zwischen den stampfenden Beinen in seine blicklosen Augen sah, so tief hinuntergebeugt, dass ich ihn fast berührte. Ich konnte dem Schlag nicht mehr ausweichen, der mir hart gegen die Stirn fuhr, das Krachen hallte im Inneren meines Kopfes wieder, bevor alles schwarz wurde, ein großes schwarzes Loch wie jetzt. Als ich meine Augen wieder öffnete, waren wir daran vorbei und erst dann fiel ich und spürte nur, wie das Gras meinen Hinterkopf umfaßte. Ich wollte aufstehen und zurückgehen, zu der Stelle, wo das Bündel lag, unbewegt von rasenden Pferdefüßen, aber ich konnte nicht, genau wie jetzt, ich konnte einfach nicht aufstehen. Mein Kopf war nach hinten gelehnt, genau wie jetzt, ich öffnete meine Augen und sah in einen fernen Himmel wie jetzt in die Bäume. Vielleicht waren dort auch Bäume, die sich tonlos hinter meinem schweren Kopf und dem Blutgeschmack bewegten, dem langsam ansteigenden Blut. Er sog sich voll und schoß mir blitzartige Bilder zu, und dann dachte ich, dass ich nicht mein Blut, sondern Barnems Blut schmeckte, heiß und unaufhaltsam rinnend; es hörte nicht mehr auf zu rinnen, seitdem nicht und vielleicht nie mehr, warm und vertraut rinnt es über mein Gesicht und meine Augen, während Bäume und Himmel auf meinen geschwollenen Kopf zurasen, der sanft auf dem hellgrünen Gras liegt.
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